Analytik NEWS
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05.05.2024

31.08.2023

Spielerisch ein nachhaltiges Produkt planen

Prof. Volker Wiskamp , Hasareh Moradi, Sara Anna Motamedian, Hochschule Darmstadt

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Kurzgefasst

An der Yale-Universität wird seit 2017 ein einsemestriges Green Chemistry-Curriculum für Bachelor-Studierende angeboten [1], über das wir auszugsweise berichtet haben [2, 3]. Studierende lernen, neue chemische Produkte so zu planen, dass sie einerseits ihren Anwendungszweck optimal erfüllen und andererseits keinen Schaden an Mensch und Natur anrichten.

Diese Kombination ist eine intellektuell anspruchsvolle Aufgabe, denn sie verlangt sowohl fundierte Kenntnisse der Synthesechemie als auch der Gefahrstoffkunde inklusiv Toxikologie und Ökotoxikologie. Oft sind Kompromisse einzugehen und zu begründen. Besonders gut hat uns das "Safer Chemical Design Game" gefallen, das die Stu-dierenden am Ende des Intensivkurses durchführen. Wir beschreiben es im Folgenden und empfehlen es zur Integration in hiesige Chemiepraktika und -seminare und zur Weiterentwicklung.

Aufgabenstellung

Tensid
Abb.1: Allgemeine Struktur eines
Tensids hydrophile Kopfgruppe
(nicht-ionisch, anionisch, kationisch
oder zwitterionisch) und
lipophiler Molekülrest.

Die Studierenden sollen in einem ca. zweistündigen computerunterstützten Online-Spiel ein hypothetisches neues Tensid (Abbildung 1) entwickeln und dabei die Regeln der Green Chemistry [4] befolgen. Konkret wird ihnen die Aufgabe gestellt, beste Reinigungswirkung zu erzielen und gleichzeitig die physikalischen, chemischen und (öko)toxikologischen Eigenschaften ihres Produktes dahingehend zu berücksichtigen, dass die Anwender durch versehentliche Aufnahme bei Hautkontakt, beim Einatmen oder Verschlucken nicht gesundheitlich geschädigt und weiterhin das Abwasser- und damit die Umwelt nicht gefährdet werden.

Beschreibung des Spiels

Das Spiel ist auf der Webseite des Yale Poorvu Centre for Teaching and Learning beschrieben und kann von dort über einen Hyperlink aufgerufen werden [5]. Es kann einzeln oder (vorzugsweise) in studentischen Kleingruppen auf einem Anfänger- und einem Fortgeschrittenen-Niveau (Abbildung 2 und 3) gespielt werden.

Spielplan
Abb. 2: Spielplan für Anfänger; Abb.3: Spielplan für Fortgeschrittene

In der Abbildung 4 sind die Spielfunktionen erklärt und wie die Studierenden wiederholende und weiterführende Sachinformationen erhalten können.

Funktionselemente
Abb.4: Besonders nützlich, die Help-Funktion des Spiels [5]. Hier sind alle Funktionselemente erklärt und
Hinweise auf weiterführende Informationen über die einzustellenden Parameter gegeben.

Nach Bearbeitung einer Spielseite erhalten die Studierenden eine Rückmeldung, ob sie die geforderten Parameter richtig eingestellt haben ("Great", "Congratulation") oder nicht ("Uh-oh", "Bad News"). Im letzten Fall bekommen sie Tipps und werden zur Überarbeitung ihrer Aufgabe zurückgewiesen.

Ergebnis Anfänger-Spiel
Abb.5: Ergebnis eines Spiels für Anfänger [5]. Die Toxizitätsparameter sind zwar alle in Ordnung (vier Sterne), das Produkt
zeigt aber keine guten waschtechnischen Eigenschaften (HLB-Wert) und muss deshalb überarbeitet werden (s. Abb. 6).

Zum Schluss wird ihnen ihr Endergebnis präsentiert (Abbildungen 5-7). Wenn alle Parameter "im grünen Bereich" sind (Abbildungen 6 und 7) ist das Tensid "marktreif". (Natürlich nur im Spiel, nicht in der Wirklichkeit - worauf die Produzenten des Spiels ausdrücklich hinweisen.) Wenn ein oder mehrere Parameter rot markiert sind, muss nachgearbeitet werden (Abbildung 5). Das Endprodukt wird mit bis zu fünf Sternen ausgezeichnet. Wenn nur vier Sterne erreicht werden, können die Spieler überlegen und/oder ausprobieren, welche Parameter sie noch geringfügig verändern sollten, um letztendlich ein optimales Ergebnis zu erzielen.

Ergebnis optimiertes Anfänger-Spiel
Abb.6: Ergebnis des optimierten Anfänger-Spiels [5] aus der Abbildung 5. Der Parameter log P wurde verändert.
Das zuvor besonders gut wasserlösliche Produkt (log P = -3) ist jetzt genauso lipo- wie hydrophil (log P = 0), sodass es
hervorragende waschtechnische Eigenschaften besitzt und immer noch toxikologisch unbedenklich ist.

Ergebnis Fortgeschnittenen Spiel
Abb.7: Endergebnis des Spiels für Fortgeschrittene [5]. Fünf Sterne - Great Job!

Fachspezifische Aspekte

In den Vorlesungen haben die Studierenden alle theoretischen Grundlagen ge-lernt, sodass sie eigentlich gar nicht "spielen" müssen, sondern mit ihrem Fachwissen direkt die richtigen Parameter einstellen können. So wurde z.B. im Unterricht thematisiert, dass fettlösliche Verbindungen leicht über die Haut resorbiert werden bzw. sich über die Nahrungskette (global) verteilen, wenn sie in die Umwelt gelangen.

Oder dass Stoffe mit einer hohen Molmasse Zellmem-brane nur schwer durchdringen, Verbindungen mit einem niedrigen Dampfdruck hingegen eingeatmet werden können. Oder dass lineare Verbindungen besser abbaubar sind als verzweigte oder zyklische, dass halogenorganische Verbindungen besonders persistent sind, während Ester, Alkohole und Säuren in der Regel enzymatisch gut abbaubar sind, dass basische Verbindungen (Haut)Proteine spalten, während saure Verbindungen das viel weniger tun und dass ein Tensid ausgewogene Wechselwirkungen mit lipophilen Verunreinigungen einerseits und dem umgebenden Wasser andererseits eingehen muss, um stabile Emulsionen bzw. Dispersionen zu bilden. (Die waschtechnischen Eigenschaften werden am besten durch den Verteilungskoeffizient P des Tensids im Zweiphasensystem n-Oktanol/Wasser bzw. log P beschrieben.)

Da diese Chemie ausgesprochen komplex ist, werden Studierende nicht alles in der Vorlesung perfekt verstanden haben, sondern müssen in Diskussionen mit Kommilitonen und/oder durch Ausprobieren das zuvor Gehörte üben. Dazu bietet ihnen das Spiel hervorragende Möglichkeiten, indem die Regler zwischen sauer und basisch, niedriger und hoher Molmasse bzw. guter und schlechter Fettlöslichkeit (log P) hin- und hergeschoben oder indem wahlweise drei Aggregatzustände bzw. mehrere funktionelle Gruppen angeklickt werden können.

Didaktische Aspekte

Die Spielentwickler haben vollkommen Recht, wenn sie behaupten, dass das "Safer Chemical Design Game" mit seinen spielbasierten Mechaniken, seiner Ästhetik und seinem Spieldenken bei den Studierenden das fachliche Verständnis fördert und sie dazu anregt, sich intensiver mit der Thematik zu befassen [5]. Weiterhin verleiht das Spiel den Studierenden Problemlösekompetenz, vor allem, wenn sie im Team arbeiten, und motiviert sie zum Handeln. Da anwendungstechnische, ökonomische, sicherheitstechnische und ökologische Gesichtspunkte bei einem optimalen Produkt gleichermaßen erfüllt sein müssen, brauchen Chemiker durchaus Frustrationstoleranz und einen langen Atem. Das Spiel vermittelt den Auszubildenden deshalb, wie mühsam eine Produktentwicklung sein kann, wie herausfordernd sie ist und wieviel Freude sie bereitet, wenn schließlich ein gutes Produkt als Blockbuster entsteht.

Gute Produkte - und nur solche - ist die Chemische Industrie den Menschen und der Natur schuldig. Das ist das Ziel und Versprechen der Green Chemistry.

Literatur

  1. Beyond Benign: Green Chemistry University Curriculum.
  2. M. Ben Hamouda, S. A. Motamedian, V. Wiskamp: 25 Jahre "Green Chemistry" - Würdigung des wegweisenden Lehrbuches von Paul T. Anastas und John C. Warner. - Chemie in Labor und Biotechnik (CLB) 74 (2023), im Druck
  3. S. A. Motamedian, V. Wiskamp: Ausbeute, Atomökonomie, Umweltfaktor - Analytische Daten und deren ökologische Bewertung. - Analytik NEWS 22.06.2023
  4. P. T. Anastas, J. C. Warner: Green Chemistry - Theory and Practise. - Oxford University Press, New York 1998 (als Paperback 2000)
  5. Yale Poorvu Centre for Teaching and Learning: The Safer Chemical Design Game - Gamification of green chemistry and safer chemical design concepts for students | Poorvu Center for Teaching and Learning (yale.edu); direkter Link zum Spiel: https://gwiz.yale.edu
  6. H. Moradi, V. Wiskamp: Die BiMo-Ausstellung - Visualisierung von Biomolekülen mittels Virtueller Realität. - Chemie in Labor und Biotechnik (CLB) 74 (2023), Heft 5-6, S. 210-217
  7. H. Moradi, V. Wiskamp: Zeitreise mit ChatGPT-4 als Reiseleiter - Aus der Geschichte für eine nachhaltige Zukunft lernen. - Chemie in Labor und Biotechnik (CLB) 74 (2023), Heft 7-8, S. 310-328
Hasareh Moradi und Sara Anna Motamedian studieren Biotechnologie an der Hochschule Darmstadt. Frau Moradi interessiert sich besonders für den computerunterstützten, spielerischen Zugang zur Chemie, insbesondere mit Lehreinheiten in der Virtuellen Realität [6] und unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz [7]. Frau Motamedian beschäftigt sich im Rahmen ihrer Bachelorarbeit mit der Übertrag-barkeit des Green Chemistry-Curriculums der Yale-Universität auf das Studium in Darmstadt [2, 3].


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