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29.05.2024

31.03.2021

Was ist unsere kleinste gemeinsame Wirklichkeit?

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Wahr oder falsch?
Pixabay [CCO]
Wenn man wie ich promovierter Chemiker ist, schaut man immer auch gerne über den Tellerrand. In welchen Bereichen haben Menschen mit dem gleichen Studienabschluss Karriere außerhalb des Wissenschaftszirkus und den Laboratorien dieser Welt gemacht?

Obwohl es in Deutschland aktuell wahrscheinlich über 100.000 promovierte Chemiker und Chemikerinnen gibt fällt meine Recherche doch relativ dünn aus:

Bis vor kurzem war wohl der 1935 geborene ehemalige Bundesminister für Forschung und Technologie, Heinz Riesenhuber, am bekanntesten, der dieses Amt von 1982 bis 1993 bekleidete und noch bis 2017 im Bundestag saß.

Dann der 1939 geborene und 2020 verstorbene ehemalige Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Harald Ringsdorff, der dieses Amt von 1998 bis 2008 innehatte und das erste rot-rote Regierungsbündnis in einem Bundesland gegen viele Widerstände etablierte. Und als dritter fiel mir noch der 1939 geborene Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger mit seinen zahlreichen Büchern mit Aphorismen und Lebensweisheiten ein, den wir an dieser Stelle schon des Öfteren zitiert haben.

Aber mehr war nicht zu finden! Dass die 1966 geborene Cindy Crawford mal ein Vierteljahr Chemie-Ingenieurwesen studierte und dieses dann zugunsten einer zugegeben sehr erfolgreichen Karriere als Model aufgegeben hat, ist da nur eine nette Randnotiz.

Promovierte Physiker und erst recht Mediziner haben offenbar deutlich häufiger andere Wege in die Öffentlichkeit eingeschlagen - wobei bei es bei den Medizinern sicher auch an ihrer deutlich größeren Anzahl liegt. Angela Merkel, Rainer Haseloff, Harald Lesch und der Queen-Gitarrist Brian May kommen mir da unter den promovierten Physikern sofort in den Sinn. Manche denken wahrscheinlich auch an Ranga Yogeshwar, der aber selbst "nur" Diplom-Physiker ist (netter Fakt am Rande: er hat einen Zwillingsbruder, der in Physik promoviert hat).

Als Wissenschaftsjournalist und Fernseh-Star ist er die perfekte Überleitung zu Mai Thi Nguyen-Kim, die ihn nicht zu Unrecht als ihr Vorbild nennt. Die 1987 geborene Heppenheimerin ist aktuell wohl diejenige promovierte Chemikerin, die am häufigsten in der Öffentlichkeit steht. Als Wissenschaftsjournalistin, Buchautorin, Youtuberin (mailab), Fernsehmoderatorin und gern gesehener Gast in Talkshows ist sie momentan allen Altersgruppen präsent und steigert stetig ihre Bekanntheit.

Ihr aktuelles Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit" ist zu Recht ganz weit oben in den Bestsellerlisten und ein wichtiger Beitrag zur aktuell in vielerlei Hinsicht aufgeheizten Diskussion zwischen Wissenschaft und Politik. Sie behandelt dort heiße Eisen wie die mögliche Legalisierung von Drogen, den Gender Pay Gap, die Alternative Medizin oder das hochaktuelle Thema "Wie sicher sind Impfungen" umfassend und zeigt auf, was gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse sind und wo die Grauzone des Interpretationsfreiraums beginnt. Dass selbst vermeintlich fundierte Studien zur Gefährlichkeit von Drogen auf sehr vielen subjektiven Annahmen beruhen, die man kritischen sehen darf, ja sogar muss ist nur eines von vielen anschaulichen Beispielen in ihrem Buch.

Sie plädiert dafür, dass in allen Diskussionen eine "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" gefunden werden sollte, auf deren Basis man dann trefflich und auf qualitativ höherem Niveau streiten kann. Denn es gibt fast nie die klare "ja/nein"-Antwort der Wissenschaft, die gerade in der Politik viele gerne erwartet hätten. Aber das macht ja gerade den Reiz solcher Diskussionen aus.

Sie sagt aber genauso klar, dass sinnvolle Diskussionen mit all denen nicht möglich sind, die unbestrittene wissenschaftliche Fakten leugnen. Wer die Erde für eine Scheibe hält und die Existenz von Viren verneint, mit dem kann man leider nicht (mehr) diskutieren, weil die Basis fehlt. Das sehe ich genauso.

Alle Wissenschaftler können sich nur durch Aufklärung und Erheben ihrer Stimme dafür einsetzen, dass wir nicht noch mehr Menschen verlieren, die sich jeder rationalen Diskussion entziehen. Darin sehe ich auch unsere tägliche Aufgabe bei Analytik NEWS. Oder wir wiederholen gebetsmühlenartig, wie es der deutsche Aphoristiker und Lyriker Gerd W. Heye treffend formuliert hat:

Hütet euch vor wissenschaftlichen Leermeinungen!
Gerd W. Heyse (1930-2020)

» Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit, Mai Thi Nguyen-Kim (Droemer HC 2021)

» Youtube-Channel "mailab" von Mai Thi Nguyen-Kim

Autor:  

Dr. Torsten Beyer

Dr. Torsten Beyer


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