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19.05.2024

08.04.2020

Zahlen lügen manchmal doch ...

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Noch vor zwei Monaten kannte in Deutschland niemand die Johns Hopkins Universität in Baltimore, inzwischen ist sie genauso bekannt wie das hier in Ober-Ramstadt produzierte Alpinaweiß. Keine Nachrichtensendung, keine Tageszeitung, kein Radiosender kommt in diesen Tagen um die Nennung der aktuellen Zahlen der COVID-19 Infizierten, Genesenen und Toten herum und jeder kann auf entsprechend grafisch aufbereiteten Webseiten die Zahlen in Echtzeit verfolgen.

Aktuell lese ich dort für Deutschland 107.663 bestätigte Infizierte, 36.081 Genesene und 2.016 Todesfälle. Was sagen uns diese Zahlen und deren tägliche Steigerungsrate? Was sagt uns der Vergleich mit anderen Ländern? Eigentlich fast gar nichts!

Aktuelle COVID-19 Zahlen weltweit
Aktuelle COVID-19 Zahlen weltweit (ArcGIS Online)


Jedes Land ist in einem anderen Stadium der Infektion, hat unterschiedliche Testkriterien und führt eine unterschiedliche Zahl an täglichen Tests durch. Auch die Durchführung der Tests ist nicht standardisiert und die Zeit die vergeht, bis die Testergebnisse den staatlichen Stellen gemeldet werden, variiert zwischen einem Tag und mehr als einer Woche. Und ob sie dann immer wahrheitsgetreue veröffentlicht werden, darf - insbesondere in Diktaturen, aber auch bei manchen demokratisch gewählten Präsidenten - bezweifelt werden. Es gibt unten ihnen ja auch solche, die sich als ehemalige Sportler für immun halten (Bolzonaro) oder sogar immer noch die Existenz einer Pandemie leugnen (Lukaschenko).

Aber auch ohne solche Ignoranz oder bewusste Fälschungen statistischen? Verwerfungen haben die Zahlen an sich kaum Aussagekraft. Führende Virologen halten in Deutschland eine Dunkelziffer vom Faktor 5-10 für realistisch, was bedeutet, dass man aktuell von 500.000 bis zu einer Million aktuell mit COVID-19 Infizierten in Deutschland ausgehen kann. Weltweit sollen sogar nur 6 Prozent der Infektionen in den Statistiken erfasst sein. Aber auch diese Zahlen basieren auf Annahmen, die teilweise auf sehr wackeligen Füßen stehen. Wir würden dann von ungefähr 0,6 bis 1,2 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland reden. Wenn ich also 100 Menschen auf der Straße begegne, dann ist im Schnitt vielleicht einer aktuell infiziert. Eine solche Einordnung der Zahlen fehlt leider allzu oft und ist doch so ungemein wichtig, um keine Panik zu verbreiten!

Wenn die Zahl der gemeldeten Infektionen dann morgen auf 111.364 steigt, ist das für einen Analytiker im Labor eine nicht signifikante Veränderung im Grundrauschen, die keinerlei Relevanz hat. Die Medien machen daraus Tendenzen. Und wenn am übernächsten Tag insgesamt "nur noch" 113.057 Infektionen gemeldet werden, dann machen manche Medien daraus schnell eine Abflachung der Infektionskurve. Man könnte aber einfach auch nur mehr jüngere und gesunde Menschen testen, um die Steigerungsrate zu reduzieren. Weitere Interpretationsspielräume liegen darin, dass es in vielen Entwicklungsländern gar keine Tests gibt. Von menschlichen Fehlern bei der Probenahme und der Analyse, von Probenverwechslungen oder einen generellen Fehlerfaktor bei den aktuellen Testverfahren will ich gar nicht reden ...

Genauso kann man die Zahl der Genesenen zerpflücken. Oft werden Infizierte nach der Quarantäne gar nicht mehr getestet oder erst Wochen später, weil es höhere Prioritäten gibt. Und niemand weiß mit Sicherheit, ob ein Genesener sich nicht doch erneut infizieren oder das Virus trotzdem weiter auf andere Menschen übertragen kann. Auch bei der Zahl der Toten muss gefragt werden, ob jemand wirklich an oder mit COVID-19 gestorben ist.

Im Übrigen werden nicht alle Verstorbenen in Deutschland (ca. 2.600 pro Tag) auf COVID-19 getestet. Manche Fachleute bezweifeln daher, dass die Todesrate hierzulande überhaupt signifikant durch die Pandemie steigt, aber das wird man erst in der Nachschau beurteilen können.

Ich will die Zahlen in keiner Weise schönreden oder verharmlosen, jeder Todesfall ist furchtbar! Aber warum hat es so lange gedauert, bis jemand Studien so wie jetzt in Heinsberg durch den Virologen Hendrik Streeck und in München beginnt, für die Testpersonen zufällig ausgewählt und auch befragt werden und dies regelmäßig wiederholt wird? Die Kosten von 1-2 Millionen Euro pro Monat können es sicher nicht sein. Nur so wird es ein reales Bild der Zahl der Infizierten, Genesen und Toten geben und nur so kann man Tendenzen erkennen, wie unter anderem der Medizinstatistik-Experte Gerd Antes schon länger fordert.

Der deutschstämmige Psychologe Hans Jürgen Eysenck hat das folgende schöne Zitat geprägt, das jeder Mathematiker, Statistiker oder auch jeder Naturwissenschaftler, der mit Messwerten täglich zu tun hat, sofort unterschreiben würde:

Man kann in der Tat mit der Statistik alles beweisen, aber nur jemandem, der von den elementarsten statistischen Begriffen keine Ahnung hat.
Hans-Jürgen Eysenck (1916-1997)

» Aktuelle Infektionszahlen der Johns Hopkins Universität

» Mehr über Hans-Jürgen Eysenck

» Statistik: Ein Sachcomic (Infocomics) - Taschebuch (2013)

Autor:  

Dr. Torsten Beyer

Dr. Torsten Beyer


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