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01.06.2024

11.06.2012

Studie: Biodiversität in Fließgewässern durch Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel nicht ausreichend geschützt

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Bevor ein Pflanzenschutzmittel Marktreife erlangen kann, muss es einen auf EU-Ebene standardisierten Zulassungsprozess durchlaufen. Die Umwelt wird durch den aktuellen Zulassungsprozess nicht ausreichend geschützt. So lautet das Ergebnis einer gemeinsamen Studie der Universität Koblenz-Landau, des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), der Universität Aarhus (Dänemark) und der Technischen Universität Sydney, die aktuell in der internationalen Fachzeitschrift für Umweltwissenschaften "Environmental Science and Technology" erschienen ist. Für diese Meta-Analyse wurden mehrere weltweit verfügbare Freilandstudien zur Wirkung von Pflanzenschutzmitteln im Freiland verglichen und ausgewertet.

Durch Regen können in der Landwirtschaft ausgebrachte Pflanzenschutzmittel in Oberflächengewässer gespült werden und sich dort nachteilig auf Gewässerorganismen auswirken. Im Zentrum der Studie stand daher die Frage, wo die Effektschwellen für die Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Organismen in Fließgewässern liegen. In ihrer Meta-Analyse berücksichtigten die Forscher ausschließlich Freiland-Studien, die Gewässer in landwirtschaftlich genutzten Gegenden untersuchten und in denen keine weitere Beeinträchtigung durch Industrie oder Abwasser vorkam. In dem Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2010 kamen acht Studien aus sechs verschiedenen Ländern Europas, aus Sibirien und Australien in Betracht. Die Studien hatten Laufzeiten von 2,5 bis 36 Monaten und umfassten insgesamt 111 unterschiedliche Fließgewässer.

Aus den Ergebnissen der einzelnen Studien leiteten die Wissenschaftler eine Dosis-Wirkungs-Kurve ab, sprich einen Zusammenhang zwischen der Toxizität eines Pflanzenschutzmittels und der Menge an empfindlichen Organismen im Gewässer. Dies erlaubte einen Vergleich mit den Konzentrationen, die im Zulassungsprozess für Pflanzenschutzmittel als unbedenklich gelten. Das Ergebnis: Der bestehende Bewertungsprozess reicht nicht aus, um das Ökosystem Fluss nachhaltig vor den Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln zu schützen. Bei Konzentrationen, die laut Standardverfahren unbedenklich sind, wurde das Vorkommen empfindlicher Organismen noch um 27 bis 61 Prozent reduziert - je nachdem, ob es unbelastete Flussabschnitte oberhalb gab, die Effekte zum Teil puffern können. Besonders gravierend ist für die Forscher, dass diese Wirkungen auch zur Reduktion von Ökosystem-Funktionen führten. Dies kann letztendlich zentrale Ökosystemdienstleistungen für menschliche Gesellschaften wie das Fischvorkommen oder die Gewässerreinheit beeinträchtigen.

Standardzulassungsverfahren zu einseitig

Die Gründe für dieses Ergebnis liegen für die Forscher klar auf der Hand: "Substanzzulassungen betrachten immer nur ein einzelnes Pflanzenschutzmittel", verdeutlicht Ralf B. Schäfer vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau. Allerdings kämen in der Natur die Stoffe nie isoliert vor, es wirkten immer mehrere Stoffe gemeinsam auf die Organismen ein und das durchaus wiederholt. "Die Standardtests für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ignorieren weitestgehend, dass in der Natur die "Tiere vielfältigem Stress ausgesetzt sind", weist Matthias Liess vom UFZ auf ein weiteres Manko im Zulassungsprozess hin. Denn Stress wie zum Beispiel durch Überschwemmungen führt dazu, dass sich die Verletzlichkeit von Arten gegenüber Pflanzenschutzmitteln stark erhöht. Die derzeitigen Standardverfahren zur Pflanzenschutzmittelzulassung seien deshalb zu überdenken.

Die aktuelle Studie widerspricht auch einigen früheren Arbeiten, bei der die Effektschwellen auf Basis von Studien in künstlichen Forschungsanlagen im Freiland, so genannten Mesokosmen, untersucht wurden. Die jetzt bestimmten Effektschwellen liegen einen Faktor 10 bis 100 tiefer als im Zulassungsprozess angenommen und als sich aus vielen Mesokosmenstudien ergeben haben. Die Wissenschaftler führen die Diskrepanz zu den bisherigen Studien darauf zurück, dass zum einen bei diesen nur einzelne Substanzen und Stressoren getestet wurden und zum anderen geeignete Methoden der Effekterfassung - wie am UFZ entwickelt - in der Risiko Bewertung nicht angewendet werden.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sind nach Aussagen der Wissenschaftler auch deshalb besorgniserregend, weil eine vorangegangene Studie der Universität Koblenz-Landau, des UFZ und der Technischen Universität Bergakademie Freiberg gezeigt hat, dass Pflanzenschutzmittel selbst in großen Gewässern keinesfalls verdünnt werden und zu den wichtigsten Schadstoffen gehören. Auch zeigte diese Studie, dass der durch die EU-weite Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) geforderte gute chemische und gute ökologische Zustand in großen deutschen und europäischen Gewässern bis 2015 wahrscheinlich nicht erreicht werden wird, da Schadstoffe wie Pflanzenschutzmittel selbst die Sicherheitsfaktoren aus den Zulassungsverfahren überschreiten und in vielen Gewässern die empfindlichen Gewässerorganismen durch Insektizide getötet werden.

Handlungsempfehlungen für einen besseren Gewässerschutz

Da in der Landwirtschaft ein Verzicht auf Pflanzenschutzmittel auf absehbare Zeit nicht realisiert wird, haben die Wissenschaftler folgende Empfehlungen, um die Biodiversität in Flüssen besser zu schützen: Ausweitung der Randstreifen und Waldflächen in der Nähe von landwirtschaftlich beeinträchtigen Flüssen, Ausbau von Wasserrückhaltebecken, welche einige Pflanzenschutzmittel fast vollständig aus dem Wasser entfernen können, wie frühere Studien am Landauer Institut für Umweltwissenschaften ergeben haben. Und nicht zuletzt den verringerten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, um die 2009 vom Europäischen Parlament und vom EU-Rat verabschiedete Richtlinie für die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln einhalten zu können.

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» Originalpublikation 3

Quelle: Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)