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16.05.2024

07.04.2022

Freie Radikale und das Altern

Prof. Wolfgang Hasenpusch

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Freie, sehr reaktive Radikale und aggressive Sauerstoff-Verbindungen sind Zwischenprodukte unseres Stoffwechsels, die ständig in jeder Zelle des menschlichen Körpers entstehen (Abbildung 1). Es handelt sich um Sauerstoff oder Sauerstoff-Verbindungen mit einem einsamen Elektron (Abbildung 2). Sie können sich etwa bei Entzündungen innerhalb des Körpers oder durch Einwirkung von außen über Umweltschadstoffe, Zigarettenrauch, Strahlung, Ozon-Einwirkung oder durch die Einnahme von diversen Medikamenten bilden (Abbildung 3).

Werden diese aggressiven Stoffe im Körper nicht oder nur ungenügend bekämpft, können erhebliche Schäden und Entartungen an unterschiedlichen Körperzellen entstehen. Zur Entgiftung bzw. Inaktivierung dieser brisanten Radikal-Verbindungen, arbeiten im Körper unterschiedliche Abwehrmechanismen: Einerseits können Enzyme, die teils bestimmte Mineralstoffe als Bestandteile benötigen, diese hochreaktiven Substanzen inaktivieren, zum anderen dienen körpereigene Antioxidantien im Rahmen der nicht enzymatischen Abwehr als Radikalfänger [1].

Freie Radikale sind jedoch nicht nur schädliche Stoffwechsel-Produkte, sondern haben auch ihre guten Seiten: Sie dienen beispielsweise der Immunabwehr, denn Leukozyten - weiße Blutkörperchen - und Makrophagen, die sogenannten Fresszellen, machen sich die Wirkung der freien Radikale zunutze, indem sie mit deren Hilfe Bakterien zerstören. Eine andere wichtige Eigenschaft spielen sie wahrscheinlich bei der "Apoptose", dem programmierten Zelltod infizierter oder beschädigter Zellen. Dieser ist wichtig für die körpereigene Unterdrückung von Krebs-Erkrankungen [2].

So kann es kontraproduktiv für eine Gesundheits-Prävention sein, sich über Nahrungs-Ergänzungsmittel zu viele Antioxidantien und Radikalfänger einzuverleiben.

freie Radikale
Abb.1 (links): Reaktive Sauerstoffspezies (engl.: reactive oxygen species, ROS) - vereinfachend auch "Sauerstoff-Radikale"
Abb.2 (mitte): Ein Radikal erhält durch Angriff auf Zellstrukturen ein Elektron in aggressiver Weise oder ein Antioxidans
stellt ein Elektron zur Verfügung [11] Abb.3 (rechts): Gefahr geschädigter Körperzellen durch Radikale

1. Die Theorie der freien Radikale für ein langes Leben

Strukturen der Antioxidantien
Abb.4: Strukturen der Antioxidantien
Ascorbinsäure, Polyphenole, Flavonoide,
Anthocyanidine und β-Carotin
Die Theorie der freien Radikale, auch Freie-Radikale-Theorie genannt, stellt ein Erklärungsmodell für das Altern von Organismen dar.

Diese Theorie baut darauf auf, dass infolge der Stoffwechsel-Prozesse aus molekularem Sauerstoff in Zellen freie Radikale entstehen. Diese kurzlebigen Molekül-Fragmente, wie beispielsweise das Hydroxyl-Radikal •OH, spielen bei einer Reihe von zellbiologischen Prozessen eine wichtige Rolle und sind durch verschiedene analytische Verfahren nachweisbar.

Der US-amerikanische Biogerontologe Denham Harman (1916-2014) stellte 1956 die These auf, dass diese freien Radikale die Ursache des Alterungsprozesses sind [4]. Mit ihrer Freisetzung schädigen die freien Radikale für die Funktion der Zelle wichtige Moleküle, wie die DNS, die RNS (Desoxyribonukleinsäure; engl.: DNA = Deoxyribonucleic Acid und Ribonukleinsäure; engl.: RNA = Ribonucleic Acid) sowie eine Vielzahl von Proteinen und Lipiden [5].

Ellagsäure
Abb.5: Struktur und Eigenschaften
von Ellagsäure

Dies führt, so die These, zu einer stetig wachsenden Ansammlung von geschädigten Zellkomponenten, was wiederum den komplexen Alterungsprozess bewirkt. Die Zellen sind jedoch selbst in der Lage, Substanzen zu produzieren, die freie Radikale unschädlich machen können, indem sie mit ihnen reagieren oder sie katalytisch zerlegen. Dazu zählen beispielsweise die Urate oder das Enzym Katalase.

Auch über die Nahrung erfolgt eine Aufnahme von Antioxidantien wie Ascorbinsäure, β-Carotin, Polyphenole, Anthocyanidine oder Flavonoide (Abbildung 4), die in den Zellen mit den freien Radikalen reagieren können. Als besonders effektiv preisen einige Pharmazeuten und Drogisten die Ellagsäure (Abbildung 5) an, die aber auch in verschiedenen Lebensmitteln enthalten ist. (Abbildung 6). Dennoch lassen sich beispielsweise im Harn Abbauprodukte nachweisen, die sich in der Folge der Schädigung der DNA oder von Lipiden bilden [6].

Gehalte von Ellargsäure in Lebensmitteln
Abb.6: Gehalte der Ellagsäure in diversen Lebensmitteln

Wurde die "Theorie der freien Radikale" zunächst auch von vielen Gerontologen als parawissenschaftlich betrachtet und abgelehnt, vermochte sie jedoch mit der Zeit einige wissenschaftliche Befunde zu verstehen, wie die Entstehung einer Reihe von Krankheiten, als da sind: Krebs, Arteriosklerose, Diabetes mellitus oder Alzheimer.

Geringere Nahrungsaufnahme bedeutet geringeren oxidativen Stress für die Zellen, was wiederum zu einer geringeren Menge freier Radikale und so zu weniger Schädigungen innerhalb der Zelle führt. Tatsächlich bewirkt eine Kalorienrestriktion in den verschiedensten Test-Organismen eine signifikante Erhöhung der Lebenserwartung. Die Supplementation von Antioxidantien führt bei einer Reihe von Versuchstieren zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Überlebenszeit, wenn diese Substanzen schon sehr frühzeitig verabreicht werden. Die maximale Lebensdauer konnte dagegen nicht erhöht werden [7].

Eine Reihe weiterer Experimente liefert widersprüchliche Ergebnisse zur Theorie der freien Radikale. So konnte die Arbeitsgruppe um den deutschen Internisten Michael Ristow (*1967) zeigen, dass freie Radikale notwendig sind, um die "Mitohormesis" in Gang zu setzen, wodurch die Zelle eine erhöhte Abwehrkapazität gegen freie Radikale erzielt. Antioxidantien verhindern dagegen die Mitohormesis [8]. Mitohormesis wird ein biochemischer Prozess genannt, bei welchem die Aktivierung von Mitochondrien zu einer Vermehrung von freien Radikalen in der Zelle führt, was letztlich eine Aktivierung der zelleigenen Abwehr gegen Sauerstoffradikale bewirkt. Aus der Theorie der freien Radikale heraus wurde so die Theorie des "Mitochondrialen Alterns" entwickelt [9].

Das United States Department of Agriculture (USDA) stellte 2012 fest, dass es keinen Beweis der Theorie der freien Radikale gebe und die Messung der antioxidativen Wirkung keine Aussage über den Nutzen von beispielsweise Polyphenolen erlaube [10].

2. Körpereigene Radikale

Unter Antioxidantien versteht man "Radikal-Fänger", die "freie Radikale", die reaktiven Sauerstoff-Arten, unschädlich machen können. Vielen ist die antioxidative Wirkung von Vitamin C, Vitamin E, β-Carotin, Polyphenolen, Anthocyanidinen u. a. bekannt, doch nur sehr wenige haben sich mit der körpereigenen Abwehr von Radikalen befasst.

"Freie Radikale" heißen Moleküle, die über ein ungepaartes Elektron verfügen. Dadurch werden sie chemisch sehr reaktiv und heften sich überall an, auch dort, wo es absolut nicht von Vorteil ist. Sie zerstören auf diese Art und Weise die Funktion der Zellmembran, der DNA und anderen Substanzen innerhalb des Organismus'.

Adenintrophosphat
Abb 7: Struktur und Eigenschaften von
Adenosintriphosphat, ATP
Das wichtigste Radikal ist das Hyperoxid(1-)-Anion (O2-). "Anion" heißt es deshalb, weil es ein Elektron zu viel mit sich trägt. Dieses, früher auch als "Superoxid" bezeichnete Radikal entsteht in den Mitochondrien der Zellkerne.

Mitochondrien betreiben einen "oxidativen Stoffwechsel". Oxidativ deshalb, weil dieser Stoffwechsel nur mit Sauerstoff funktioniert. Zusammen mit Sauerstoff kann das Mitochondrium aus Fetten, Kohlenhydraten und Proteinen das Adenosintriphosphat (ATP) (Abbildung 7), den universellen Energieträger, produzieren. Bei diesem Prozess spielen die äußeren Elektronen der Verbindungen eine bedeutende Rolle. Bei diesen Reaktionen bildet sich auch das Hyperoxid(1-)-Anion, O2- [11].

3. Die freien Radikale und das Altern

Mittlerweile bestätigen zahlreiche Veröffentlichungen einen Zusammenhang zwischen den freien Radikalen und der Zerstörung lebenswichtiger Zellen.

Die Senkung der Radikal-Bildung pro Einheit Sauerstoff-Aufnahme in der Nähe lebenswichtiger Einheiten, wie dem Mitochondrium oder der Desoxiribonukleinsäure, DNS, erhöht die maximale Lebensspanne von Menschen und Tieren. Das Entstehen von Radikalen in der Nähe der DNS gilt demnach als entscheidender Faktor für das Altern [12].

Im Alter lässt die ATP-Produktion der Mitochondrien nach, bei steigender Menge an freien Radikalen. Weniger ATP heißt aber auch, dass für zelluläre Prozesse weniger Energie zur Verfügung steht. Die Zunahme freier Radikale greift auch die Mitochondrien bis zur Zerstörung an. Zudem ist mittlerweile bekannt, dass die freien Radikale bei nahezu allen Erkrankungen eine Rolle spielen. Zellen sterben immer nur dann, wenn sie zu stark unter oxidativem Stress leiden.

Müssen die Zellen mehr ATP produzieren, wie es bei starker sportlicher Anstrengung oder körperlicher Arbeit der Fall ist, nimmt auch die Radikalen-Produktion als Koppelreaktion zu. So glaubten die Mediziner jahrelang an die ausschließlich zerstörenden Eigenschaften der freien Radikale und bekämpften sie mit Vitaminpräparaten und anderen "Radikalfängern".

2009 konnten deutsche Wissenschaftler zeigen [13], dass die Gabe von Antioxidantien, wie Vitamin C (1000 mg) und E (400 IE) pro Tag, dafür sorgen, dass keine zelluläre Adaptation nach Sporteinheiten zu beobachten ist. Anders ausgedrückt: Antioxidantien verhindern, dass sich der Muskel beim Sport ordentlich anpasst. In den Mitochondrien bilden sich bei der Zellatmung freie Radikale in Form von Molekülen oder Ionen mit einem ungepaarten Elektron. Sie hängen sich reaktionsfreudig an viele lebenswichtige Stoffe. Mit dem Alter nimmt ihre Zahl zu. Dabei gibt es vier Hauptquellen für freie Radikale:

  1. Innerliche Produkte: Unser Körper produziert ständig als Nebenprodukt normaler Stoffwechselfunktionen freie Radikale.
  2. Die Umwelt: Luftverschmutzung, Zigarettenrauch, Smog, Ruß, Autoabgase, Giftmüll, Düngemittel, Insektenschutzmittel, Hintergrundstrahlungen, Drogen und auch bestimmte Nahrungsmittel können freie Radikale erzeugen.
  3. Stressfaktoren: Altern, Traumata, Medikamente, Krankheiten, Infektionen und Stress
  4. Kettenreaktionen: wenn ein freies Radikal ein Elektron von einem anderen Molekül oder Ion an sich reißt, um selbst wieder in einen energieärmeren Zustand zu fallen, erzeugt es damit neue freie Radikale. In vielen Fällen wird dann dieses freie Radikal ebenso versuchen, ein Elektron zu vereinnahmen.
Sind DNA-Enzyme oder Zellmembran-Lipide von der Zerstörung betroffen, ist die Funktion der Mitochondrien eingeschränkt. Dadurch ist die Energiebildung in Form von ATP, welche in den Mitochondrien stattfindet, gemindert. Eine geringere ATP-Produktion bedeutet gleichzeitig, dass noch mehr Radikale entstehen können. Man nimmt an, dass die Zellen beim Alterungsprozess in diesen Teufelskreis geraten und lebenswichtige Funktionen dadurch immer mehr geschwächt werden [14].

Erste Forschungs-Erkenntnisse zur Entschärfung der freien Radikale führten zu Enzymen, den sogenannten Schutz-Enzymen, die freie Radikale abfangen und binden. So hat die Zelle gegen Peroxide und seine Radikale ein Schutzsystem aufgebaut. In diesem Schutzsystem wirkt das Enzym "Katalase", das in allen Zellen vorkommt.

Antioxidantien, wie Vitamin C und E, Glutathion und β-Carotin, aber auch Ellagsäure, Polyphenole und Anthocyanidine fangen ebenfalls Radikale ab. Diese oxidierten Verbindungen können dann durch Enzyme abgebaut werden. Vitaminreiche Kost vermindert deshalb Anhäufung von Radikalen. Im Tierversuch konnte bewiesen werden, dass die allgemeine Ernährung einen wichtigen Faktor bei der Entstehung freier Radikale darstellt. Normalkost mit hohem Fettanteil fördert die Bildung der Radikale, während sie durch eine vollwertige Diät reduziert wird.

Da der gesamte Alterungsprozess ein sehr komplexes Geschehen ist, stellt die Bildung von Radikalen nur einen Faktor dar. Andere Faktoren sind genetischer, sozialer und psychischer Natur.

4. Fazit

Während die Schäden, die an den Zellen jüngerer Personen durch freie Radikale verursacht werden, reparabel sind, kommt es hingegen bei älteren Personen zu dauerhaften Schädigungen im Zell-Metabolismus und bei der DNS. Durch die Schädigung von Zellmembranen können diese ihre Transport- und Ausscheidungsfunktion nicht mehr erfüllen. Schließlich wirkt die Veränderung des genetischen Materials der Zellreproduktion entgegen, wodurch Zellen absterben oder auch entarten und unter Umständen zu Krebszellen mutieren.

Ungefähr 80 bis 90% aller Degenerationskrankheiten stehen in Zusammenhang mit freien Radikalen. Der Körper produziert zwei Enzyme, um freie Radikale zu kontrollieren:

  • Superoxid-Dismutase (SOD) und
  • Gluthathion-Peroxidase (GTP).
Superoxiddismutase
Abb.8: Aktivitätszentrum des menschlichen
Superoxiddismutase (SOD)-Enzyms

Von den Superoxid-Dismutasen sind Enzyme zu unterscheiden, die Kupfer, Zink, Mangan oder Eisen komplex in einem Peptid-Konglomerat enthalten (Abbildung 8) und über Redox-Reaktionen die Radikale entschärfen [15].

Die oxidierte Form des SOD-Enzyms reagiert mit einem Superoxid-Ion unter Bildung von Sauerstoff und der reduzierten Form des Enzyms (A). Diese Form reagiert weiter mit einem zweiten Superoxid-Ion und zwei Protonen. Dabei entstehen Wasserstoffperoxid und die oxidierte Form des Enzyms (B), wie z. B.:

(A) SOD-Fe3+ + O2- → SOD-Fe2+ + O2

(B) SOD-Fe2+ + O2- + 2 H+ → SOD-Fe3+ + H2O2

Zwei Moleküle des dabei gebildeten Wasserstoffperoxids reagieren weiter zu einem Molekül Sauerstoff und zwei Molekülen Wasser. Diese Reaktion wird von dem Enzym Katalase katalysiert:

2 H2O2 + Katalase → O2 + 2 H2O

Kinder, denen diese Enzyme von Geburt an fehlen, leiden unter der Erkrankung "Progerie", die durch die Wirkung der freien Radikale zu raschem Altern und Tod noch vor Erreichen des Erwachsenenalters führt. Schließlich stellt der Körper älterer Menschen SOD und GTP in einer nicht mehr ausreichend großen Menge her [16].

Literatur

  1. Öffentliches Gesundheitsportsportal Österreichs
  2. Doc Medicus Gesundheitslexikon
  3. Wikipedia Theorie der freien Radikale
  4. Harman, D.: "The free radical theory of aging", Antioxid Redox Signal, 5 (2003) 557-561
  5. Duthie, G.G. et al.: "Oxidants, antioxidants and cardiovascular disease", Nut Res Rev, 2 (1989) 51-62
  6. T. Schmidt et al.: "Physiologische Potentiale der Langlebigkeit und Gesundheit im evolutionsbiologischen und kulturellen Kontext - Grundvoraussetzungen für ein produktives Leben", in "Produktives Leben im Alter", M. Baltes und L. Montada (Hrsg.), Campus-Verlag, (1996) 69-130;
  7. Ames, B.N. et al.: "Oxidants, antioxidants, and the degenerative diseases of aging", PNAS, 90 (1993) 7915-7922
  8. Bjelakovic, G. et al.: "Mortality in Randomized Trials of Antioxidant Supplements for Primary and Secondary Prevention", JAMA, 297 (2007) 842-857
  9. Beckman, K.B. und Ames, B.N.: "Mitochondrial aging: open Questions", Ann N Y Acad Sci., 854 (1998) 118-127
  10. "Oxygen Radical Absorbance Capacity (ORAC) of Selected Foods", Release 2 (2010), United States Department of Agriculture, Agricultural Research Service. 16. Mai 2012
  11. edubily
  12. Barja, G et al. "A decrease of free radical production near critical targets as a cause of maximum longevity in animals." Comparative Biochemistry and Physiology, Part B: Comparative Biochemistry 108/4 (1994) 501-512
  13. Ristow, M. et al. "Antioxidants prevent health-promoting effects of physical exercise in humans." Proceedings of the National Academy of Sciences, 106/21 (2009): 8665-8670
  14. Lernhelfer.de
  15. Wikipedia Superoxiddismutase
  16. Axel Rhindt MEDMIX (22. Januar 2021)


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