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19.05.2024

01.06.2017

"Sei doch mal vernünftig!"

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Wem wurde dieser Satz noch nicht zugerufen, verbunden mit der Aufforderung, eine spontan getroffene Entscheidung zu revidieren oder eine ausgefallene, verrückte Aktion zu unterlassen?

Der Philosoph Immanuel Kant beschreibt die Vernunft als dem Verstand übergeordnet: Der Verstand strukturiert die Wahrnehmung, die Vernunft kontrolliert die Wahrnehmung und zeigt Grenzen auf.

Befragte man heranwachsende Jugendliche nach der Definition von Vernunft, bekäme man ziemlich sicher die Beschreibungen "langweilig" und "spießig" zu hören.

Von dem amerikanischen Chemiker Linus Pauling ist folgendes Zitat überliefert:

Wenn der Mensch so viel Vernunft hätte wie Verstand, wäre alles viel einfacher.
Linus Pauling (1901-1994)

Als Träger des Nobelpreises für Chemie, verliehen für seine Forschungen über die Natur der chemischen Bindung, ist ihm der Verstand sicher nicht abzusprechen, mit seiner Vernunft dagegen verhält es sich offenbar etwas komplizierter.

Seinen Kampf gegen oberirdische Atomwaffentest, die Aufklärung über radioaktiven Fallout und seine Folgen kann man ohne Zweifel als sehr vernünftig betrachten. Pauling blieb hartnäckig, obwohl ihm sein Einsatz für die nukleare Abrüstung zu Zeiten der McCarthy-Ära zunächst den Verdacht kommunistischer Aktivitäten sowie ein Auslands-Reiseverbot und damit zusammenhängende Nachteile als Wissenschaftler einbrachte. Später, im Jahre 1963, wurde ihm für dieses Engagement der Friedensnobelpreis verliehen.

Seine Thesen zur Wirkung hochdosierter Vitamine dagegen sind durchaus fragwürdig und wissenschaftlich sehr umstritten. Mit 18 Gramm Vitamin C täglich (ist das noch vernünftig?) war er der Meinung, könne man allen möglichen Krankheiten, insbesondere Krebs, vorbeugen. - Es ist wohl eine Ironie des Schicksals, dass er ausgerechnet an genau dieser Krankheit starb.

Vernünftig zu handeln hat sicher schon manche Katastrophe verhindert und Konflikte gelöst. Deshalb würde ich das Zitat von Pauling auch so unterschreiben. Vernunft ist aber sehr relativ und liegt oft auch im Auge des Betrachters. Wichtig ist daher, dass man bei seinen Überlegungen und Entscheidungen immer beides einsetzt: Vernunft und Verstand.

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Autor:  

Anke Fähnrich

Anke Fähnrich


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anonym07.07.2017 um 10:20:01

Ich denke, Kant liegt hier daneben:

Vernunft ist ein anders Wort für die Abschätzung von Risiken: Steht einem hohen Risiko ein geringer Nutzen gegenüber nennen wir das unvernünftig! Macht man das dennoch, nennt man das im Erfolgsfall mutig, im Fall des Scheiterns dumm und unvernünftig.

Derjenige, der aufgefordert wird vernünftig zu sein, geht entweder ein höheres Risko als andere oder hat aber die Chance anders abgeschätzt.

Ein Fußballspieler, der beim Anstoß erkennt, dass der gegnerische Torwart noch nicht mit seinem Torjubel fertig ist und zu weit vor dem Tor steht und deshalb direkt vom Anstoß aus aus 50 Meter auf das Tor schießt ... wenn er trifft, war das mutig und vernünftig ... trifft er nicht, war das zu frech und unvernünftig ...

Manche scheinbar unvernünftige Handlung ist im Nachhinein betrachtet rational und vernünftig:

Oleg Blochin in Stuttgart ... drei gegnerische Spieler laufen auf ihn zu - er als Stürmer muss verteidigen bei diesem Konter ... er fängt an Kasatschok zu tanzen... die Stürmer sind verwirrt, bleiben stehen und seine Mannschaft kann erfolgreich verteidigen ... klug, mutig und absolut vernünftig der Mann!




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