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20.05.2024

19.06.2017

Neue Chemikalien ohne Tierversuche testen

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Für die Zulassung neuer Chemikalien oder die Überprüfung von Abwässern muss getestet werden, ob die Substanzen oder Wasserproben ein Umweltrisiko darstellen. Dazu werden Versuche mit Algen oder Wasserflöhen durchgeführt; die Auswirkungen auf Wirbeltiere untersucht man jedoch mit Hilfe von Tierversuchen an Fischen. Pro Jahr sterben dafür weltweit Millionen von Fischen. So erfahren Behörden und Produzenten von Chemikalien mit dem "akuten Fischtoxizitätstest", bei welcher Konzentration eines neu entwickelten Produktes - beispielsweise Pestizide oder Zusatzstoffe für Industriebereiche - Fische sterben, nachdem sie der Chemikalie für 96 Stunden ausgesetzt sind. Die Resultate sind wichtig, doch die Methode ist ethisch bedenklich. In diesem Spannungsfeld wurde die Toxikologie weiterentwickelt. Der Ansatz ider Eawag-Umwelttoxikologen st es, anstatt mit voll entwickelten Fischen, mit Fischzellen und Fischembryonen zu arbeiten. Deshalb ist jetzt ein Eawag-Spin-off entstanden.

Der Bedarf an Tests mit Fischen steigt, da einerseits die Ansprüche an die Umweltrisikobewertung wachsen, andererseits auch die Anzahl neuer Chemikalien und Produkte stetig steigt. Alternative Methoden sind daher erstrebenswert und ein kommerziell interessantes Gebiet. Zudem ermöglicht dieser Ansatz, bereits während der Produktentwicklung mit denKunden zusammenzuarbeiten. So kann verhindert werden, dass das Endprodukt gefährliche Substanzen enthält.

Bei den herkömmlichen Tests werden lediglich leicht beobachtbare Effekte wie das Sterben oder Überleben als Resultat erfasst. Damit lernt man nicht, wie diese Effekte hervorgerufen werden. Um Chemikalienwirkungen besser zu verstehen, müssen Auswirkungen zu früheren Zeitpunkten untersucht werden. Das gelingt mit alternativen Testsystemen. Es werden zum Beispiel molekulare oder biochemische Veränderungen in Fischzellen erkannt oder beobachtet, wie sich Herzschlag oder Verhalten von Fischembryonen verändern. Damit können viel detailliertere Aussagen gemacht werden als bloß tot oder lebendig.

Wie funktionieren diese alternativen Testmethoden?

Zellen aus Fischen werden isoliert und diese im Labor fast beliebig vervielfältigt. Eine solche Zellkultur bezeichnet man als eine Zelllinie. Mit ihrer Hilfe können Tests durchgeführt werden, ohne dass deswegen ein einziger Fisch leiden oder sterben muss. Anstelle des "akuten Fischtoxizitätstests" wird zum Beispiel eine Zelllinie verwendet, die vor über 20 Jahren von kanadischen Forschern aus den Kiemen einer Regenbogenforelle gewonnen worden ist. Diese Zellen werden den Chemikalien ausgesetzt; bereits nach 24 Stunden sieht man die Auswirkung anhand der Zahl noch lebender Zellen. Es konnte gezeigt werden, dass die daraus resultierenden wirksamen Chemikalienkonzentrationen sehr gut mit denen aus dem "akuten Fischtoxizitätstest" übereinstimmen.

Mit den Fischzelllinien können auch Phänomene isoliert untersucht werden, beispielsweise wie Chemikalien Enzyme aktivieren, die zur Entgiftung führen. Möchte man Auswirkungen auf den gesamten Organismus analysieren, arbeitet man mit befruchteten Fischeiern von Zebrabärblingen. Untersuchungen mit solch frühen Lebensstadien von Fischen - bis zu 120 Stunden alt - gelten gemäß Europäischer Gesetzgebung nicht als Tierversuche, weil das Nervensystem der Individuen noch unterentwickelt ist. Es wird so beobachtet, wie ein gesamter, heranwachsender Organismus, der einer Chemikalie ausgesetzt wird, reagiert. So werden mehr toxikologische Informationen über die getestete Substanz und deren Effekte gewonnen, als mit herkömmlichen Testverfahren. Zum Beispiel lässt sich die Aktivität von Transportern messen, die normalerweise Substanzen aus dem Organismus transportieren, aber durch Chemikalien in ihrer Arbeit blockiert werden. Oder es werden Wirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem analysiert. Dank der Transparenz der Embryonen lässt sich das mit bildgebenden Verfahren detailliert untersuchen.

Alternative Methoden bieten weitere Vorteile

Die alternativen Testsysteme sind oft schneller - beispielsweise 24 Stunden für die Fischzellen gegenüber 96 Stunden im "akuten Fischtoxizitätstest", benötigen weniger Testsubstanzen sowie viel weniger Platz im Labor. Das ermöglicht es, deutlich mehr Substanzen in gleicher oder kürzerer Zeit zu untersuchen. Zudem können dank der differenzierten Analysen Vorhersage-Modelle entwickelt und Kunden beraten werden, welche Art der Testdurchführung für ihre Produkte am besten geeignet ist. Herkömmliche Tests sind starr und bieten kaum Spielraum.

Eawag-Spin-off Aquatox-Solutions gegründet

Schweizweit ist das Team um Dr. Stephan Fischer derzeit das einzige, das mit Zelllinien aus Fischen arbeiten. Auch Tests mit Fischembryonen werden noch nicht so häufig angeboten. Aus diesen Gründen kamen in den letzten Jahren vermehrt Anfragen von außerhalb der Eawag, Tests mit diesen alternativen Methoden durchzuführen. Da die Eawag nicht kommerziell arbeitet, wurde die Firma gegründet. Dies mit Hilfe der Eawag, die die Forschenden hervorragend unterstützt: Während der nächsten fünf Jahre können Infrastruktur und Labore der Eawag gegen Miete und Gebühren genutzt werden. Dadurch sind die Voraussetzungen gegeben, sich zu entwickeln und auf dem Markt zu etablieren.

Es ist eine Win-win-Situation. Denn alles, was mit der Erforschung alternativer Methoden anstatt Tierversuche zu tun hat, wird weiterhin bei der Eawag durchgeführt. Das heißt, die Grundlagen werden in der Funktion als Eawag-Umwelttoxikologen erarbeitet. Und das, was in diesem Zusammenhang wissenschaftlich etabliert ist und nun in der Praxis umgesetzt wird, kann über Aquatox-Solutions angeboten werden. Die Firma ist sozusagen die Schnittstelle zur Praxis für alternative Testmethoden. Wichtig ist dabei auch, dass partnerschaftlich mit dem Oekotoxzentrum zusammengearbeitet wird, das an der Eawag und der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) ansässig ist. Auch das Oekotoxzentrum arbeitet an der Schnittstelle zur Praxis, jedoch mit anderen Schwerpunkten.

Neue Herausforderungen und Ziele

Innerhalb der Eawag wird weiterhin intensiv Grundlagenforschung für die Umwelttoxikologie betrieben: Es gibt zum Beispiel immer wieder Chemikalien, die weder mit dem herkömmlichen Fischtest noch mit den alternativen Methoden untersuchbar sind. Solchen Problematiken wird nachgegangen, um die Gründe herauszufinden und Alternativen zu entwickeln. Mit Zelllinien und Computermodellen wird daran geforscht, vorhersagen zu können, inwiefern sich Chemikalien in Fischen anreichern oder ob das Fischwachstum von Chemikalien beeinflusst wird.

Herausforderungen für die Firma liegen auch außerhalb der Untersuchung von Chemikalien oder Umweltproben. Für die Wissenschaftler ist das operative Tagesgeschäft sowie der gesamte Auftritt des Spin-offs Neuland. An Businesskursen oder an Coachings durch die ETH Zürich erhält das Team wertvolle Inputs.

Gleich nach dem Start konnte ein umfangreiches Industrieprojekt gewonnen werden. Mit einem Toxizitätstests mit Embryonen (FET test = Fish Embryo Toxicity test) begleiten die Wissenschaftler Untersuchungen, um Chemikalienwirkungen auf molekularer Ebene zu analysieren. Das wichtigste Ziel für das erste Jahr, Kundenaufträge in einem gewissen Gesamtvolumen zu akquirieren, wurde fast erreicht.

Bis Jahresende soll der Kommission für Technologie und Innovation (KTI) einen Projektantrag eingereicht. Ziel ist es, ein breit einsetzbares Test-Set für verschiedene Chemikalienwirkungen zu entwickeln und praxistauglich zu machen. Damit sollen neue Kunden gewonnen und das Portfolio verbreitert werden. Dabei geht es in erster Linie um flexible Test- und Analysestrategien, die bestmöglich auf die Fragestellungen der Kunden angepasst sind und das Potenzial der Alternativmethoden ausschöpfen.

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Quelle: Eawag