Analytik NEWS
Das Online-Labormagazin
20.05.2024

13.07.2023

Katastrophal!

Teilen:


Erde in Gefahr
Bild: pixabay [CCO]
Katastrophen haben die Eigenschaft, dass man automatisch hinschauen muss - auch wenn man das eigentlich nicht will. Insbesondere bei großen Chemieunfällen, die Auswirkungen auf die Umwelt und Bevölkerung haben, ist es dringend erforderlich, genau hinzuschauen. Das passiert leider nicht immer.

Zu den schwersten dieser Unfälle gehört das sogenannte "Seveso-Unglück", das am 10. Juli 1976 geschah und später die westliche Welt lange in Atem hielt. Aufgrund eines falsch abgeschalteten Reaktionskessels geriet die Synthese von Trichlorphenol außer Kontrolle. Die Temperatur im Kessel stieg unkontrolliert, sodass sich das Nebenproduktes Tetrachlor-Dibenzodioxin (TCDD) bildete. Durch ein berstendes Sicherheitsventil entwich der hochgiftige Stoff.

Da aus Kostengründen auf ein Explosionsentlastungsrohr und ein Auffanggefäß verzichtet worden war, zog die Dioxin-Wolke über die nicht weit von Mailand entfernten umliegenden Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno. So weit, so schlimm.

Verheerend aber ist, dass die Verantwortlichen viel zu spät - erst mehrere Tage nach dem Unglück und drei Tage nachdem intern bekannt wurde, welches Gift freigesetzt worden war - die Bevölkerung informiert und evakuiert wurde. Bis dahin waren bereits unzählige Pflanzen verdorrt, tausende Klein- und Nutztiere verendet und Kinder bekamen einen zunächst unerklärlichen Hautausschlag im Gesicht, der sich als narbenbildendende Chlorakne herausstellte. Nachdem die Firmenleitung die Bewohner über die Gefahren des ausgetretenen Giftes informiert hatte, mussten Zehntausende Nutztiere notgeschlachtet werden und schwangeren Frauen wurde vorsichtshalber zur Abtreibung geraten.

Unglaublich erscheint, dass die verantwortlichen führenden Mitarbeiter der Chemiefirma Icmesa - eine Tochter des Hoffmann-La Roche Konzerns - mit Bewährungsstrafen davonkamen. Ungeheuerlich ist, dass die 41 Fässer, in denen 1982 das Gift der Unglücksstelle entsorgt werden sollte, verschwanden und erst Monate später angeblich auf einem Bauernhof in Nordfrankreich wieder auftauchten. Bis heute weiß niemand ganz genau, ob das Seveso-Gift nach dem Wiederauftauchen der Fässer ordnungsgemäß vernichtet wurde. Eine der verschiedenen Versionen dazu lautet dahingehend, dass sie in der damaligen DDR auf einer Deponie in Mecklenburg-Vorpommern entsorgt wurden. Ihre Spur hat sich verloren.

Immerhin hatte das Unglück zur Folge, dass die EU 1982 die sogenannte Seveso Richtlinie beschloss. Sie schreibt vor, wie Chemie-Anlagen betrieben werden müssen, um mögliche Risiken zu analysieren und abzustellen, um so die Gefahren schwerer Unfälle mit gefährlichen Stoffen zu beherrschen.

Nach dem Eklat mit den verschwundenen Giftmüllfässern, einigten sich 116 Staaten im Jahr 1989 auf das Baseler Übereinkommen zur Kontrolle grenzüberschreitender Giftmülltransporte , das 1992 in Kraft trat und das Deutschland 1995 ratifizierte.

Diese Sicherheitsvorkehrungen verhindern leider nicht, dass weitere Katastrophen geschehen! Die bislang schlimmste ereignete sich am 4. Dezember 1984 in Bhopal. Ebenfalls durch Sparmaßnahmen bei der Produktions- und Anlagensicherheit, sowie durch Unachtsamkeit bedingt, geriet auch hier eine chemische Synthese außer Kontrolle. 40 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat traten aus und töteten bis zu 25.000 Menschen.

Noch heute gibt es auffallend viele chronisch Kranke und Totgeburten in der Gegend. Auch hier zeichnet sich ein großer Chemiekonzern verantwortlich: Ein Tochterunternehmen der amerikanischen Union Carbide Corporation stellte inmitten eines Armenviertels der indischen Millionenstadt Pestizide her. Und wieder entzogen sich die verantwortlichen Führungskräfte ihrer Strafen. Warren Anderson, der damalige Chef von Union Carbide, floh in die USA und wurde bis zu seinem Tod - 30 Jahre nach dem Unglück - nicht belangt.

Die jüngste große Katastrophe, die den meisten noch in Erinnerung sein wird, ist die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020. Dort waren durch Schweißarbeiten zunächst ein Lager für Feuerwerkskörper und anschließend knapp 3.000 Tonnen Ammoniumnitrat explodiert. Auch hier gab es Tote, Verletzte und erheblichen Sachschaden. Auch hier wurde bereits jahrelang über Verbleib und sachgerechter Lagerung der gefährlichen Chemikalie gestritten und die mangelnde Sicherheit beklagt.

Selten bricht eine Katastrophe herein, ohne ihre Vorboten vorauszuschicken.
Raymond Radiguet (1903-1923)
schrieb der französische Erzähler und Lyriker Raymond Radiguet in seinem Buch "Der Teufel im Leib". Das Bundesinstitut für politische Bildung definiert eine Katastrophe als "...ein Ereignis, bei dem das Leben oder die Gesundheit von vielen Menschen gefährdet sind." Auch aktuell stehen uns Katastrophen bevor, die sich schon seit längerer Zeit ankündigen und wahrscheinlich wird auch hier kein Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen werden.

Sie sind nicht unmittelbar durch Sparmaßnahmen oder unsachgemäße Wartung bedingt, wie die beiden vorgenannten Beispiele. Wir haben es mit schleichenden, aber nicht weniger bedrohlichen Katastrophen zu tun. Verursacht durch unseren Wohlstand, unsere Bequemlichkeit und Ignoranz, werden sie uns und die nachfolgenden Generationen treffen, wenn wir nicht umgehend umdenken. Diese Katastrophen, deren Vorboten schon lange über uns kreisen, heißen zum Beispiel Glyphosat, Mikroplastik, PFAS und Klimawandel.

Katastrophen haben die Eigenschaft, dass man automatisch hinschauen muss - auch wenn man das eigentlich nicht will. Bei diesen schleichenden Katastrophen sind das Hinschauen und entsprechendes Handeln unsere Pflicht.

» Der Chemieunfall von Seveso (Springer)

» Arte Dokumentation über die Folgen der Katastrophe von Bhopal

» Sky News: Explained: What happened in deadly Beirut explosion

Autor:  

Anke Fähnrich

Anke Fähnrich


» Kommentieren