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20.05.2024

20.05.2021

Sinneswandel

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Andrei Sacharow East Side Gallery
Andrei Sacharow, East Side Gallery, Berlin
Bild: Bundesarchiv, J.F. Thurn [CC BY-SA]
Am 21. Mai 2021 wäre der russische Kernphysiker Andrei Dmitrijewitsch Sacharow 100 Jahre alt geworden. Anlass für einen Rückblick auf sein ereignisreiches Leben, das uns ein Beispiel dafür sein kann, dass es immer die Möglichkeit gibt, neue Wege einzuschlagen, ohne seine Ideale zu verwerfen.

Als Vollblut-Wissenschaftler machte er bereits früh Karriere, wurde nicht nur jüngstes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, sondern mehrfach "Held der Sozialistischen Arbeit" und erhielt zudem mit 32 Jahren den Stalin- und 3 Jahre später den Lenin-Preis für seine herausragenden wissenschaftlichen Leistungen.

Diese bestanden in erster Linie darin, dass sich Sacharow seit Ende der 1940er Jahre intensiv mit der Entwicklung der Wasserstoffbombe beschäftigte und als einer der wissenschaftlichen Leiter des Programmes für den Bau der Bombe tätig war. Überzeugt von der Notwendigkeit des strategischen Gleichgewichts zwischen der UdSSR und den USA und der gegenseitigen nuklearen Abschreckung, sah er die Entwicklung und den Bau einer Wasserstoffbombe als seine patriotische Pflicht.

Wie vielen anderen Kernphysikern kamen Sacharow bereits Mitte der 1950er Jahren Zweifel an der Durchführung von Kernwaffentests. Der Preis für die Sicherheit eines nuklearen Gleichgewichts, von dem er nach wie vor überzeugt war, war nämlich eine globale Verseuchung der Umwelt und der Atmosphäre durch radioaktive Zerfallsprodukte, die nach jedem Test zurückblieben. Seinen Berechnungen nach bedeutete dies Hunderttausende durch Verstrahlung bedingte Erkrankungen oder vorzeitige Todesfälle, die er nicht weiter mit verantworten wollte. Daher trat er konsequent gegen weitere, in seinen Augen unnötige, Atomwaffentest ein.

Trotz seiner Proteste führte die Sowjet-Regierung im Herbst 1962 über der Insel Nowaja Semlja einen Test mit der stärksten jemals gezündeten, und noch unter Sacharows Leitung entwickelten, Wasserstoffbombe - der "Zar-Bombe" AN602 - durch. Dies bewegte Sacharow endgültig dazu, die Seiten zu wechseln und sich mit ganzer Kraft für die Genfer Atomteststopp-Verhandlungen stark zu machen. Seine zunehmenden und immer mehr in der Öffentlichkeit ausgetragenen regierungskritischen Aktivitäten führten im Jahr 1968 zum endgültigen Ausschluss aus dem politischen Establishment der UdSSR.

Statt als Wissenschaftler machte sich Sacharow nun als Kämpfer für politisch Verfolgte und geistige Freiheit einen Namen. Dies brachte ihm weiteren Unmut und Repressalien seitens der sowjetischen Regierung ein und machte ihn zeitweilig sogar zum Staatsfeind Nr. 1. In der westlichen Welt dagegen schätzte man seinen Sinneswandel und er wurde dafür 1975 mit dem Friedensnobelpreis als "Menschenrechtler in der UdSSR" belohnt.

Seine Proteste gegen den Einmarsch der sowjetischen Armee nach Afghanistan im Jahr 1979 führten schließlich zu seiner Verhaftung und Verbannung, die erst 1986 von Michail Gorbatschow aufgehoben wurde. Die Rehabilitation durch Gorbatschow ermöglichte es ihm, auf die politische Bühne zurückzukehren und er schaffte es bis in den Volksdeputiertenkongress, wo er sich für eine Verfassungsreform stark machte und die Abschaffung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei KPdSU forderte. Relativ unspektakulär aber sehr überraschend endete sein Leben am 14. Dezember 1989 durch einen Herzinfarkt.

Seine Sichtweise zu überdenken und neue Wege zu beschreiten ist, wie man an Sacharows Beispiel sieht, nicht gleichbedeutend mit Wankelmütigkeit. Seinen Idealen - allen Menschen eine friedliche Koexistenz zu ermöglichen - ist er zeitlebens treu geblieben. Oder mit den Worten des Aphoristikers Siegfried Wache ausgedrückt:

Mein Standpunkt ist in etwa gleichgeblieben, nur meine Sichtweisen haben sich verändert.
Siegfried Wache (*1951)

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Autor:  

Anke Fähnrich

Anke Fähnrich


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Frau Veronika Wimmer21.05.2021 um 09:12:10

Vielen Dank für Ihre geistreichen Aphorismen. Sie sind mir eine Freude und bringen wahres Mensch-sein in den Alltag.




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